Konsequent in die falsche Richtung

Kommentar zu den 11 Leitsätzen der EKD

Elf Leitsätze … Sie sind die Antwort der EKD – genauer: des hochkarätig besetzten Z(ukunft)-Teams – auf die Herausforderungen, denen sich unsere Kirche in den nächsten Jahren und Jahrzehnten zu stellen hat. Sie sollen als Diskussionsgrundlage, aber auch als Entscheidungshilfe verstanden werden. An verschiedenen Stellen wurde schon auf die Probleme der Kirche hingewiesen und auch die Leitsätze wurden äußerst kritisch kommentiert. Ich will hier deshalb nicht das wiederholen, was andere bereits viel besser herausstellen konnten. Eine Liste m.E. lesenswerter Artikel findet sich am Ende dieses Kommentars. Auch wenn Überschneidungen nicht zu vermeiden sind, soll es hier darum gehen, auf Beobachtungen hinzuweisen, die in anderen Veröffentlichungen noch nicht oder meiner Ansicht nach noch nicht deutlich genug herausgestellt wurden.

Dabei ist es sicher nicht unangebracht, die elf Leitsätze und ihre Ausformulierungen in Bezug zum Impulspapier „Kirche der Freiheit“ aus dem Jahre 2006 zu setzen. Fast 15 Jahre nach den unter dem damaligen Bischof Huber veröffentlichten Analysen und den daraus entwickelten zwölf Leuchtfeuern sieht sich die EKD von steigenden Austrittszahlen und der aktuellen Corona-Krise genötigt, wieder Perspektiven für die Kirche der Zukunft zu zeichnen. Dabei fallen sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede ins Auge, die zu benennen vielleicht helfen können, die Motivation der Autoren nachzuvollziehen und mögliche Konsequenzen zu skizzieren.

Zunächst: Die Leitsätze sind im Grunde kein Impulspapier, sondern der Entwurf eines Förderprogramms. In neun von den elf fett gedruckten Grundgedanken wird – oft schon im ersten Satz – von „fördern“ bzw. „Förderung“ gesprochen. Ausnahmen bilden die Themen „Ökumene“ (LS 4) und „Zugehörigkeit“ (LS 7), wo von „stärken“ die Rede ist. Das ist insofern aufschlussreich, als dass es hier also nicht darum geht, Impulse für die Kirche vor Ort zu unterbreiten, sondern lediglich festzuhalten, was als förderungs- und unterstützungswürdig gilt und was nicht. Mit anderen Worten: Hier werden nicht Probleme benannt und den Mitarbeitenden Werkzeuge in die Hand gegeben, eigene kreative Antworten zu finden. Sondern es wird vorgegeben, in welchen Bahnen sich die Lösungen zu bewegen haben, damit sie entsprechend honoriert werden.

Das erinnert nun aber an den mit der Agenda 2010 verknüpften Slogan „fordern und fördern“ (in dieser Reihenfolge!). Dies mag eine zufällige und von der Kommission unbeabsichtigte Parallele sein, doch weisen manche Formulierungen an etlichen Stellen auf eine ähnliche Grundhaltung hin. So heißt es in LS 11: „Die Gliedkirchen sind aufgefordert, mutig und vertrauensvoll Aufgaben, die nicht genuin kontextuell sind, an gemeinsame Akteure zu delegieren. Die EKD als Gemeinschaft der Gliedkirchen, aber auch einzelne Landeskirchen können solche Akteure sein.“ (LS 11, Z. 528 – 531). Im Impulspapier „Kirche der Freiheit“ war dies noch offener formuliert: „Im Jahre 2030 repräsentiert die EKD im Dienst der Gemeinschaft der Gliedkirchen den deutschen Protestantismus in der Öffentlichkeit und organisiert die Abstimmungsprozesse nach innen, soweit die Bekenntnisfamilien und Landeskirchen dies wünschen.“ (Hervorhebungen von mir.) Das schon 2006 formulierte Prinzip des „stellvertretenden Handelns“ wird also stärker betont und nicht mehr als offenes Angebot gekennzeichnet, sondern als Voraussetzung für eine wie auch immer geartete (wahrscheinlich finanzielle und infrastrukturelle) Förderung postuliert. Bedeutet dies nun im Umkehrschluss, dass Landeskirchen, die sich dieser Forderung verweigern, nicht gefördert werden und deshalb Nachteile in Kauf nehmen müssen?

Ähnlich betroffen könnten dementsprechend auch jene Institutionen, Einrichtungen und Gemeinschaften sein, die andere als die vorgegebenen Wege einschlagen wollen. Es wird deutlich, dass die Z-Kommission vor allem die Kirchengemeinden in ihrer parochialen Erscheinungsform ins Visier nimmt. Auch hier ist eine Verschärfung gegenüber „Kirche der Freiheit“ zu erkennen. Hieß es 2006 noch, dass man die Parochien von 80% auf 50% reduzieren wolle, um für andere Gemeindeformen (z.B. Profil- und Passantengemeinden) Platz zu machen, so lautet die prophetische Formulierung nun: „Parochiale Strukturen werden ihre dominierende Stellung als kirchliches Organisationsprinzip verlieren.“ (LS 6, Z. 292f.) Darüber hinaus bedient man sich eines Vokabulars, das kaum noch Wertschätzung gegenüber den Kirchengemeinden und ihren Diensten erkennen lässt und sich Vorurteilen bedient, die behauptet, aber nicht belegt werden. Beispiel: „Flexible Präsenz von Kirche an wechselnden Orten wird wichtiger werden als das klassische Modell einer „Vereinskirche“ mit ihren statischen Zielruppenangeboten.“ (Hervorhebung von mir, LS 6, Z. 295 – 297). Im Leitsatz selbst wird man noch deutlicher: „Unverbunden agierende, selbstbezügliche Institutionen und Arbeitsbereiche auf allen kirchlichen Ebenen werden aufgegeben.“ (Z. 165 – 267) 

Nur nebenbei bemerkt und auch wenn es natürlich Gegenbeispiele gibt: Ich habe in den letzten Reformjahren in unserer Kirche kaum eine Organisationsform erlebt, die flexibler und kreativer auf Vorgaben reagiert hat, die Kirchengemeinden oftmals kaum Luft zum Atmen gegeben haben. Vielerorts war und ist man sehr wohl bereit zu Kooperationen und Fusionen, arbeitet(e) an neuen, flexibleren Konzepten, um mehr Menschen zu erreichen. Und auch die diversen Einrichtungen wie z.B. das „Haus der Stille“ in unserer EKiR haben sehr viel an Engagement investiert, um ihr so wichtiges Angebot trotz schwieriger Vorgaben aufrecht zu erhalten. Eine derart pauschale Aburteilung einer sehr inhomogenen, so unterschiedlich geprägten und voraussetzungsverschiedenen Ebene ist daher im Grunde nur möglich, wenn man von weit oben und weit weg auf die Basis schaut.

Als dritten Punkt möchte ich auf den Begriff der Hierarchie hinweisen. In Leitsatz 9 heißt es: „Kirchliche Leitung wird weniger hierarchisch funktionieren und weniger selbstbezüglich agieren.“ (LS 9, Z. 407f.) Dieses Ziel wird eingebettet in die Forderung von „Abstimmung und Konzentration“. „Es bedarf eines gemeinsamen Leitungswillens als geistliche Gemeinschaft, sowohl ebenenübergreifend in der Vertikalen wie auch horizontal im Zusammenwirken unterschiedlicher Handlungsfelder und Akteure. Dabei verschärft der Paradigmenwechsel hin zu einer innovationsorientierten, dynamischen und verschlankten Organisationsstruktur der Kirche zugleich die Ansprüche an das gesamtkirchliche Leitungs- und Steuerungshandeln. … Zukünftig wird es noch wichtiger, dass Mitarbeitende mit Leitungs- und Führungsaufgaben im Sinn gesamtkirchlicher Orientierung und christlicher Identitätsbildung wirken.“ (LS 9, Z. 419ff.) Worauf das hinausläuft, wird im nächsten Leitsatz 10 deutlich: „Versäulte Strukturen werden abgebaut, eine besonnene Entbürokratisierung durchgesetzt und das Gremiumwesen entschlackt.“ (LS 10, Z. 453f.) Mit diesen Maßnahmen sollen 15% an Verwaltungskosten eingespart werden, die zur Finanzierung innovativer Projekte genutzt werden können.

Was auf den ersten Blick recht positiv und unterstützenswert klingt, könnte sich im Nachhinein anders entwickeln als erhofft. Zwar sollen „Verantwortlichkeiten und Kompetenzen klarer auf der Ebene des jeweils Handelnden angesiedelt werden“, die Frage ist jedoch, welche Ebene davon profitiert und an Einfluss gewinnt? Die Kirchengemeinden mit ihren Presbyterien und Kirchenvorständen scheinen hier nicht gemeint zu sein. Sie werden auch in diesem Punkt wieder ausdrücklich – im Gegensatz zu anderen Ebenen – anvisiert. „Es gilt, Beharrungskräfte einzuhegen. Parochiale Strukturen werden sich verändern …“ (LS 10, Z. 470f.) Wenn dann von Verwaltungsabbau und Einsparungspotenzial und Reduzierung von Gremienarbeit die Rede ist, könnte man auf den Gedanken kommen, dass die Gemeindeebene diejenige ist, die dabei am meisten Federn lassen muss. Sollte dies nicht der Fall sein, würde man die Quadratur des Kreises in Angriff nehmen: Wer „flache Hierarchien“ etablieren will, also auf eine Organisationsform setzt, in der Ranghöhere wenige Eingriffe in Entscheidungen Rangniedrigerer vornehmen, wird das Ziel von Abstimmung und Konzentration verfehlen. Dass man anderes im Sinn hat, verrät der letzte Leitsatz. Hier wird erkennbar eine Konzentration von Entscheidungshandelnden und eine Verlagerung von Kompetenzen nach oben gefordert. Eher als eine flache Hierarchie ist wohl eine effektivere Hierarchie das Ziel, die nur mit entsprechenden Kompetenzverlagerungen zu erreichen wäre.

Insgesamt machen nicht nur diese Beobachtungen auf mich den Eindruck, dass man das Impulspapier „Kirche der Freiheit“ lediglich aufgewärmt und die darin enthaltenen Vorschläge pointierter und verschärfter formuliert hat. Wirklich neue, innovative Ideen haben die Leitsätze gegenüber 2006 jedenfalls nicht zu bieten. Ein weiteres Indiz dafür, dass sie kein (neues) Impulspapier darstellen, sondern mit dem „fordern und fördern“-Prinzip eine Umsetzungsstrategie für die schon damals anvisierten Ziele formulieren. Ich bezweifle, dass dies jedoch zum gewünschten Effekt führen wird, die Abwärtsspirale bei den Mitgliederzahlen zu bremsen oder gar zu stoppen. Das konnte „Kirche der Freiheit“ auch nicht – nicht einmal ansatzweise. Wenn man sich also inhaltlich derart konsequent an den zwölf Leuchtfeuern orientiert, wäre es da nicht folgerichtig gewesen, zunächst einmal eine ehrliche, selbstkritische Bilanz zu ziehen? Meine Überzeugung ist: Hätte man diese Bilanz gezogen, würde man solche Leitsätze nicht formulieren können. Stattdessen rekurriert man auf Erfahrungen aus dem Reformationsjubiläum und seine vermeintlichen Erfolge. Nun habe ich auf Gemeinde- und Kirchenkreisebene sehr innovative und bereichernde Projekte erlebt. Über diesen Ebenen waren die Erfolgsgeschichten aber eher ambivalent. 

Was also wäre die Alternative? Ich denke: Je weiter sich die Kirche von ihrer Basis entfernt, je größer und unüberschaubarer die Strukturen werden, je unzuverlässiger sie in ihren Angeboten und in ihrer Präsenz vor Ort wird, desto schneller wird der Entfremdungsprozess wirken.

KirchenBunt denkt daher von der Ebene aus, die – auch nach den letzten Erhebungen durch die KMU V und das Gemeindebarometer – in einem destabilisierten kirchlichen Umfeld immer noch die verlässlichste Konstante ist und Nachhaltigkeit garantiert: die Kirchengemeinden, die Dienste und Werke vor Ort. Bei allem, was auch hier schief läuft, bei allen Unzulänglichkeiten und Verbesserungspotenzialen ist es die Organisationsform, die noch am meisten Menschen erreicht und an die Kirche bindet. Das schließt Konzentrationen, Kooperationen, ja auch Fusionen nicht aus! Aber sie sollten situativ, an die örtlichen Gegebenheiten angepasst und vor allem auf freiwilliger Basis (und das heißt ohne jedweden Druck) von den Kirchengemeinden selbst initiiert werden. Es ist nicht mutig, Kompetenzen nach oben zu verlagern und damit Gefahr zu laufen, basisunabhängiger zu agieren. Sondern das Gegenteil wäre couragiert: Den Einrichtungen, Werken und Institutionen mehr Entscheidungsfreiheit, mehr Einflussnahme, mehr Verantwortung zuzugestehen. Als evangelische Kirche liegt unsere Chance wohl weniger in einer Organisationsform, die sich in ihrer Hierarchie immer mehr der katholischen annähert, sondern eher darin, kleinere, überschaubarere und damit flexiblere Einheiten zu ermöglichen. Natürlich müssen sich dafür auch die Kirchengemeinden wandeln. Aber es geht hier weniger um die Alternative Parochie- oder Event- oder Personalkirche. Es geht darum, das Priestertum aller Getauften konsequent zu Ende zu denken und damit die von Präses Rekowski schon länger geforderte Beteiligungskirche vor Ort umzusetzen. Damit ergeben sich für mich im Hinblick auf die zukünftigen Herausforderungen folgende Überlegungen, die ich unter dem Stichwort „basisorientierte Diversität“ benennen möchte:

In Zukunft wird es nicht genügend Pfarrer*innennachwuchs geben, um alle Pfarrstellen zu besetzen. Das ist u.a. ein Argument für Fusionen und größere Einheiten. Aber: Warum muss eine Kirchengemeinde an eine (besetzte) Pfarrstelle gebunden sein? Wir haben Pfarrstellen ohne Anbindung an eine Parochie, warum nicht auch eine Parochie ohne Pfarrstelle? Was wir fördern sollten sind Konzepte, die Gemeindeleben und -leitung unabhängiger von einem theologischen Examen machen und dennoch eine geistliche Versorgung ermöglichen. Kleinere Einheiten ließen sich da ehrenamtlich oder nebenamtlich organisieren und böten die Chance, neue geistliche Leitungsmodelle auszuprobieren. (In diesem Zusammenhang müsste auch noch einmal über die Ordination nachgedacht werden.)

Ich greife den Terminus „flache Hierarchie“ gerne auf und verknüpfe ihn mit dem Begriff der Subsidiarität. Ohne Kirchenkreis- und Landeskirchenebene ist gerade eine selbstständigere Kirchengemeindeebene nicht denkbar, weil sie natürlich nicht alle Aufgaben und Verpflichtungen alleine bewerkstelligen kann. Aber anstatt pauschal mehr Verantwortung und Kompetenzen von den Gemeinden abzuziehen sollten die nachgeordneten Ebenen vor allem dort eingreifen und tätig werden, wo es nötig und erwünscht ist und ein Mandat der Gemeindeleitung vorliegt. Die Situation vor Ort ist so unterschiedlich (Stadt – Land, Wohlstandsklientel – sozialer Brennpunkt etc.), dass auch die Bedürfnisse und Möglichkeiten sehr verschieden sind. Eine „fluide“ und „flexible“ Kirchenkreis- und Landeskirchenebene könnte viel schneller, gezielter und damit effektiver vor Ort unterstützend wirken und würde zudem konkret auch für die Gemeindeglieder sichtbar werden und damit Profil gewinnen.

Die evangelische Kirche ist von ihrer Entwicklungsgeschichte und ihrem Selbstverständnis her ein sehr buntes Gebilde – auch in struktureller Hinsicht. Ich habe immer noch das Gefühl, dass dies eher als Hindernis und Makel denn als Chance und Reichtum empfunden wird. Ebenso scheinen in manchen Köpfen immer noch Vorurteile gegenüber parochialen Gemeinden zu geistern, die in ihrer Undifferenziertheit durch Erhebungen wie z.B. dem Gemeindebarometer des Sozialwissenschaftlichen Instituts längst widerlegt sind. Schließlich werde ich den Eindruck nicht los, dass immer noch von Stadt zu Land gedacht wird und Konzepte und Ideen sich eher an urbanen Verhältnissen entlanghangeln. Dagegen möchte ich ein Zitat von Prof. Dr. Eberhard Hausschildt von der Universität Bonn setzen:

Hatte im 20 Jahrhundert es so ausgesehen, dass die Kirche insgesamt vor allem von der Kirche in der Großstadt neue Wege lernt, so scheint mir jetzt eine Zeit angebrochen in der es heißt: Für die Zukunft der Kirche von den Dorfkirchen lernen. Darum: Bitte genau hinschauen, ihr Kirchenfreunde in der Stadt und auf dem Land und mitmachen bei dem, was sich in den ländlichen Regionen abspielt.

PROF. DR. HAUSSCHILDT, „FREIRAUM UND INNOVATIONSDRUCK“, VORTRAG APRIL 2018 AUF EINER TAGUNG DER EV. AKADEMIE IM RHEINLAND.

Man darf gespannt sein, wie die Synode der EKD auf die „11 Leitsätze“ reagiert. Thies Gundlach, Vizepräsident im Kirchenamt, ist jedenfalls zuversichtlich, dass das Förderprogramm durchgewinkt wird. „In der Synode, das bei uns das entscheidende Gremium, wird im November, so hoffe ich, eine grundsätzliche Zustimmung in diese Richtung der Kirchenentwicklung kommen. Dann geht es darum das Ganze umzusetzen und mit den notwendigen Einsparungen oder Umorganisationen zu verbinden, vor denen alle Institutionen stehen. Dann hoffen wir, dass wir genug Zeit haben, diese Umgestaltung sozial verträglich und verantwortlich umzusetzen.“

Ob sich Kirche dann noch „auf gutem Grund“ befinden wird, muss hinterfragt werden. Ihre Basis hat sie damit jedenfalls nicht mehr im Blick.


Aus zahlreichen Kommentaren zu den 11 Leitsätzen sei hier verwiesen auf:

Christian Wolff: http://wolff-christian.de/kirche-auf-gutem-grund-eher-nicht-dafuer-zerstoert-die-ekd-ihre-eigenen-fundamente-einige-anmerkungen-zu-den-elf-leitsaetzen-der-ekd/

Gerhard Wegner: https://zeitzeichen.net/node/8472

Ulrich H. J. Körtner: https://www.zeit.de/2020/32/ekd-zukunftspapier-glauben-diakonie-evangelische-kirche

Günter Thomas: https://zeitzeichen.net/node/8424

Interview mit Thies Gundlach im Domradio: https://www.domradio.de/themen/ökumene/2020-07-19/das-ende-der-kirche-wie-wir-sie-kennen-thies-gundlach-verteidigt-die-elf-leitsaetze-der-ekd

DSG-EKD – ein erster Eindruck

Nein, natürlich bin ich kein Jurist. Dennoch riskiere ich einen laienhaften Blick auf das neue Datenschutzgesetz der EKD, das am Tag vor der DSGVO (Datenschutzgrundverordnung der EU) am 24. Mai 2018 in Kraft getreten und für alle Gliedkirchen verbindlich ist – und damit auch für die Landeskirchen, Kirchenkreise und Gemeinden. Denn als Webdisigner und ehrenamtlich Mitarbeitender einer Kirchengemeinde komme ich unweigerlich damit in Berührung und muss mich mit den Konsequenzen wohl oder übel auseinandersetzen. Und da ich nicht der einzige zu sein scheine, bei dem viele Fragen offen und Unsicherheiten bestehen bleiben, seien meine an dieser Stelle einmal etwas ausführlicher formuliert … und freue mich über jede Rückmeldung, die mir einen Erkenntnisgewinn vermittelt.

Die Diskussionen, die ich bisher mitbekommen habe, zeigen vor allem eins: Kaum einer, der an der Basis arbeitet, kann die Konsequenzen vor Ort abschätzen und einordnen. Die einen sehen schon das Ende jeglicher Öffentlichkeitsarbeit gekommen, andere warten lässig ab und ändern erst einmal gar nichts. Am einfachsten – wenn man das in diesem Zusammenhang so sagen kann – ist noch die Anpassung der Datenschutzerklärung für die eigene Website. Wenn auch manche auf den letzten Drücker, so haben doch einige Landeskirchen inzwischen Muster als Vorlagen zur Verfügung gestellt, die eine erste Hilfestellung bieten. Doch der Datenschutz und die Pflicht zur Information über die eigene Datenverarbeitung geht ja weit über die Onlinepräsenz hinaus. Denn die DSG-EKD hat den Anspruch, DSGVO-konform zu sein und umfasst damit alles, was dort an Ansprüchen und Vorgaben formuliert ist.

Dass man die DSGVO kirchlicherseits nicht einfach übernimmt, liegt an der Stellung der Kirchen in Deutschland und ihrem Recht, eigene Gesetze formulieren und ihre Einhaltung durch eine eigene Gerichtsbarkeit auch kontrollieren zu dürfen, was gegebenenfalls auch Sanktionen gegenüber jenen beinhaltet, die sich nicht daran halten. Umso mehr wären jene, die konkret mit dem DSG-EKD umgehen müssen, dankbar für möglichst eindeutige Formulierungen. Dass dies ein Gesetz, dass deutschlandweit und für die unterschiedlich geprägten Landeskirchen gelten soll, nicht durchgängig leisten kann, ist verständlich. Vielleicht wäre in diesem Fall eine Art Handreichung hilfreich, die beispielhaft Konkretionen bietet. Mancher Datenschutzbeauftragte hat dies auch versucht, wobei auch hier eine nicht unerhebliche protestantische Vielfalt zu erkennen ist.

Nun aber zum Text. Und da fällt mir gleich in der Präambel ein mir sehr einleuchtender Satz ins Auge: „Die Datenverarbeitung dient der Erfüllung des kirchlichen Auftrags.“ (Präambel Abs. 4) Das ist also die Grundlage, auf der das nun folgende Gesetzeswerk verstanden werden soll. Damit unterscheidet sich der Fokus von dem der DSGVO erheblich! Denn während das EU-Gesetz zuerst und vordergründig als Schutz- und Regelungswerk etabliert wurde, um den Missbrauch der Datenverarbeitung einzudämmen, wird diese in der DSG-EKD als positives, hilfreiches Instrument zur Auftragserfüllung der Kirche definiert! Daten zu verarbeiten – so würde ich daraus lesen – ist also ein für die Verkündigung essentieller Arbeitsvorgang. Eine vergleichbare Präambel, die eine positive Deutung der Datenverarbeitung bietet, gibt es bei der DSGVO meines Wissens nicht. Daraus folgt für mich: Das berechtigte Anliegen des Datenschutzes muss in allen Belangen abgewogen werden gegenüber dem Auftrag der Kirche, das Evangelium zu verkünden und in der Welt wirken zu lassen. Interessant wird es also an den Stellen, an dem Einschränkungen der Datenverarbeitung, die das Datenschutzgesetz vorschreibt, diesen Auftrag erschwert oder gar verhindert!

Diesbezüglich sind jene Passagen des Gesetzes spannend, die ich einmal „Öffnungsklauseln“ nennen will, weil sie meines Erachtens Spielräume eröffnen, mit einer Situation so oder eben anders umzugehen. Ein paar Beispiele mögen das verdeutlichen: In §6 heißt es: „Die Verarbeitung ist nur rechtmäßig, wenn mindestens eine der nachstehenden Bedingungen erfüllt ist:“, worauf mehrere Bedingungen genannt werden, u.a. auch diese: „die Verarbeitung ist für die Wahrnehmung einer sonstigen Aufgabe erforderlich, die im kirchlichen Interesse liegt“ (§6 Abs. 4). Oder §7: „Die Verarbeitung zu einem anderen Zweck als zu demjenigen, zu dem die personenbezogenen Daten ursprünglich erhoben wurden (Zweckänderung), ist nur rechtmäßig, wenn … Grund zu der Annahme besteht, dass andernfalls die Wahrnehmung des kirchlichen Auftrages gefährdet würde“ (§7 Abs. 7). Oder §18: „Informationspflicht bei mittelbarer Datenerhebung … Von dieser Verpflichtung ist die verantwortliche Stelle befreit, … wenn durch die Auskunft die Wahrnehmung des Auftrags der Kirche gefährdet wird.“ (§18 Abs. 2) Neben der „Gefährdung des Auftrags“ ist noch ein anderer, pragmatischerer Grund für Ausnahmeregelungen gegeben: der Arbeitsaufwand. So heißt es in §17 („Informationspflicht bei unmittelbarer Datenerhebung“): „Die Absätze 1, 2 und 3 finden keine Anwendung, wenn … die Informationspflicht einen unverhältnismäßigen Aufwand erfordern würde.“ (§17 Abs. 4) Ebenso §23: „1 Die verantwortliche Stelle teilt allen Empfängern, denen personenbezogene Daten offengelegt werden, jede Berichtigung oder Löschung der personenbezogenen Daten oder eine Einschränkung der Verarbeitung nach den §§ 20 bis 22 mit, es sei denn, dies erweist sich als unmöglich oder ist mit einem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden.“

Für mich ergeben sich hierbei mehrere Fragen. Zunächst: Wer definiert, was zur Erfüllung des Auftrags der Kirche notwendig ist und was nicht? Die Gemeinde vor Ort? Der Kirchenkreis? Die Landeskirche? Die EKD? Und kann diese Frage juristisch überhaupt beantwortet werden oder erfordert sie nicht vielmehr eine systematisch-praktisch-theologische Klärung oder zumindest eine Fundierung? Und dann: Welche Maßstäbe werden angesetzt, um eine Arbeit als angemessenen oder unangemessenen Aufwand zu deklarieren? Hängen diese vom Personalschüssel ab? Oder vom vorhandenen technischen Equipment? Gelten dann in gut ausgestatteten Kirchengemeinden oder Kirchenkreisen andere, mitunter strengere Regeln als in unterbesetzten und technisch unterversorgten Einrichtungen (Stichwort: schnelles Internet)? Ein heiß diskutiertes Thema ist in diesem Zusammenhang z.B. die Veröffentlichung von Kasual- und Geburtstagslisten im Gemeindebrief. Sie sind erfahrungsgemäß wichtig, gerade für ältere Gemeindeglieder und im ländlichen Raum. Hier geht es um Gemeindebindung, auch um den Öffentlichkeitscharakter z.B. der Taufe. Doch sind solche Listen datenschutzrechtlich zulässig? Ist eine wünschenswerte und wohl auch dem Datenschutz entsprechende proaktive Einholung der Zustimmung jeder einzelnen betroffenen Person zumutbar?

Mit solchen oder ähnlichen Fragen und den daraus resultierenden Sorgen und Ängsten schlagen sich nun Gemeindesekräterinnen, Jugendleiter, ehrenamtliche Teamer und Presbyterinnen und Pfarrstelleninhaber herum … Und was ich dabei wahrnehme, ist eine ungeheure Verunsicherung, die das kirchliche Leben und den Gemeindeaufbau zu lähmen droht. Das kann aber – siehe Präambel – nicht im Sinne des DSG-EKD sein! Umso wichtiger wäre es jetzt, so schnell wie möglich für alle Bereiche eine nachvollziehbare und verständliche Konkretisierung vorzunehmen, wie sie z.B. für den Gemeindebrief schon vorliegt (siehe: https://datenschutz.ekd.de/wp-content/uploads/2016/08/Datenschutz-im-Gemeindebrief.pdf / vielen Dank an Peter Buck für diesen Hinweis). Also z.B.: „Die EKD und ihre Gliedkirchen haben grundsätzlich das Recht, öffentlich vollzogene Kasualhandlungen im Gemeindebrief unter Nennung des Anlasses, der Namen der Betroffenen und des Datums zu veröffentlichen. Sie dokumentieren damit auch in der Öffentlichkeit das kirchliche Leben und geben so Zeugnis für die Wirksamkeit der Botschaft Jesu Christi in der Welt. Davon unberührt bleibt das Recht jedes Einzelnen, diese Veröffentlichung im Vorfeld durch eine schriftliche Erklärung zu untersagen.“ Wäre damit nicht allen geholfen?

… und führe uns nicht in Versuchung?

Vor ein paar Monaten bin ich mit meiner Familie umgezogen. Mitten aus dem Revier ins Saarland. Zwei Lastwagen nebst Anhänger transportierten das Mobiliar sowie hunderte Kisten mit unseren Habseligkeiten. Und wie das bei Umzügen so ist, bin ich beim Auspacken einer dieser Kartons auf alte Schätzchen gestoßen, an die man schon lange nicht mehr gedacht hat. So fiel mir ein Notenblatt in die Hand mit einer Melodie, die ich vor etlichen Jahren einmal für das Vaterunser geschrieben hatte. Mir gefiel sie immer noch. Ein paar Tage später hörte ich von dem Vorschlag des Papstes, eine Zeile des wohl bekanntesten Gebetes der Christenheit neu zu formulieren. Zufall? Wer weiß? Auf jeden Fall ein Anlass, meinen Song endlich ordentlich zu Papier zu bringen und dabei für mich zu klären, ob ich seinem Vorschlag etwas abgewinnen könnte.

Franziskus stört sich an dem Versteil: „und führe uns nicht in Versuchung“. Es sei nicht Gott, der den Menschen versuche, sondern Satan. Denn ein Vater mache so etwas nicht. Deshalb plädiere er dafür, anders zu beten: „Lass mich nicht in Versuchung geraten.“ Der Papst positionierte sich damit in einer Diskussion, die mehr oder weniger öffentlich schon seit geraumer Zeit geführt wird. Ist das durch Jesus vermittelte väterliche Gottesbild vereinbar mit der Vorstellung, dass Gott, der ja die Liebe ist, seine Geschöpfe auf die Probe, ja ihnen gar eine Falle stellt? Wenn Gott doch das absolut Gute repräsentiert, kann er dann so gemein sein? Diese Fragen spitzen das Problem der Theodizee, also die Frage danach, wie Gott in der Welt das Leiden zulassen kann, noch einmal zu. Wirft man ihm dabei höchstens seine Passivität vor, was schon schwer genug zu ertragen ist, wird er nun mit dem Vorwurf konfrontiert, selbst aktiv am Bösen beteiligt zu sein.

Natürlich nahm die Debatte nach der Stellungnahme des Papstes an Fahrt auf und pro und contra wurden äußerst kontrovers diskutiert. Philologische und theologische Argumente wurden herangezogen, die einen halten die griechische Fassung für eindeutig und sehen keine Notwendigkeit zu einer Korrektur, die anderen bemühen die Muttersprache Jesu (aramäisch) und halten die Formulierung für interpretationswürdig. Und dann gibt es auch jene, die sprachästhetisch argumentieren. Drei Lager bildeten sich in der Folge heraus: diejenigen, die bei der traditionellen Fassung bleiben wollen, jene, die für eine neue Formulierung plädieren und schließlich eine Fraktion, die beide Varianten für möglich und richtig halten. So ist nicht verwunderlich, dass zum Beispiel in der Schweiz die französischsprachigen Christen zu Ostern die neue Formulierung in ihrer Liturgie übernommen haben („ne nous laisse pas entrer en tentation“), während ihre deutschsprachigen Geschwister bei der alten Version geblieben sind („ne nous soumets pas à la tentation“).

In Deutschland hat sich die EKD für die Beibehaltung der vertrauten Formulierung entschlossen, was ich eindeutig begrüße. Ich sehe in der traditionellen Fassung jedenfalls keinen Widerspruch zu einem liebenden himmlischen Vater, denn auch wenn ich dieser Vorstellung sehr viel abgewinnen kann, ist sie doch wie alle anderen nur ein Versuch unter vielen, Gott in ein vertrautes Bild zu packen. Nutzen wir es zu einseitig, legen wir Gott auf ein zwar liebenswürdiges, aber dennoch unzureichendes Profil fest. Gerade das Alte Testament erzählt ja oft ganz unbefangen von total anderen, befremdenden, ja auch beängstigenden Erfahrungen, die Israel mit seinem Gott gemacht hat. Das mag daran liegen, dass es für einen alten Monotheisten keinen Ort und keine Zeit geben kann, in der Gott nicht ist oder das Zepter aus der Hand gibt. Selbst bei Hiob muss sich der Teufel erst die Genehmigung seines Herrn abholen, sein Unwesen – eingeschränkt – treiben zu dürfen.

Überhaupt scheint mir die Vorstellung eines Versuchers eine geniale Erfindung des Menschen zu sein, die Verantwortung von sich weisen zu können, wenn er wieder einmal Blödsinn angestellt hat und an der Schöpfung schuldig geworden ist. Denn wenn uns der Teufel oder Satan reitet, sind wir ja nicht mehr wir selbst und damit Herr der Lage! Überhaupt sollte der Mensch, bevor er irgendjemand anderen ins Spiel um Gut und Böse bringt, erst einmal sich selbst an die Nase fassen und dafür sorgen, dass niemand – wie im Himmel so auch auf Erden – einen Grund hat, enttäuscht oder sauer auf ihn zu sein. Denn letztendlich ist es ja nicht die Versuchung, die uns zu schaffen macht, sondern die Konsequenzen, wenn wir ihr erliegen.

So muss ich also nicht an der Vaterunser-Melodie herumdoktern und kann sie lassen, wie sie mir damals eingefallen ist. Übrigens: Wem der Song gefällt, darf ihn gerne für private oder gottesdienstliche Zwecke nutzen. Die Noten stehen als PDF zum Download bereit, ebenso eine kleine MP3- und Midi-Datei, um sich die Melodie anhören zu können. Vielleicht komme ich irgendwann eimal auch noch dazu, den Song richtig aufzunehmen. Aber vorher muss ich noch ein paar Umzugskartons auspacken.


→ Vater_unser_im_Himmel-C (Noten als PDF)
→ Vater_unser_im_Himmel (Midi-Datei)
Vater_unser-im_Himmel (MP3)

Vater unser im Himmel (mp3)